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TIRE DIé

Fernando Birri
Argentinien 1960
33 min
V'07

Tire dié , einer der einflussreichsten Kurzdokumentarfilme Lateinamerikas, beginnt mit einer Luftaufnahme auf die argentinische Stadt Santa Fe, aus dem Off ertönen in traditioneller „Voice of God“-Manier statistische Daten. Zu den gewohnten Angaben wie der Einwohneranzahl summieren sich bald in parodistischer Absicht Angaben zur Anzahl der Volksschüler und Beamten, Straßenlaternen und Frisörläden. Dann nähert sich die Kamera den Randbezirken und den dort anwachsenden Ghettos, Territorien, in denen die Statistik unzutreffend und gehaltlos wird. Hier haben Birri und die Studenten der von ihm gegründeten Dokumentarfilmschule an der Universidad del Litoral (Santa Fe) zwischen vier und fünf am Nachmittag während der Jahre 1956, 1957 und 1958 das gefilmt, was im Vorspann kämpferisch als „erste filmische Nachforschung“ benannt ist. Sich aus der luftigen Höhe auf die Augenhöhe der Protagonisten begebend, saugt die Kamera Bilder von Armut und Verwahrlosung auf. Die hier hausen, überleben von Tag zu Tag und oft sind es die Kinder, die die nötigen Groschen nach Hause bringen: Sie gehen zum „Tire dié“, so heißt das Betteln entlang der Eisenbahnbrücke, welche die Außenbezirke von Santa Fe in großer Höhe überquert. In schwindelerregender Höhe laufen sie barfuß neben dem Zug, der gen Buenos Aires fährt, strecken die Hände in die Höhe und rufen „Tire dié, tire dié – wirf einen Groschen!“ Und wird er geworfen, dann strecken sie sich nach ihm, straucheln, raufen vor den ratlosen Gesichtsausdrücken der Zugpassagiere. Das gesamte letzte Drittel des Films ist eine atemberaubende Montage des Tire dié mit erschütternder Wirkung, wie Gespenster und doch auch Artisten wirken die balancierenden Kinder auf der Eisenbahnbrücke. Die finale Einstellung blickt lange und beharrlich auf ein dreijähriges Kind am Arm seiner Mutter, die man sagen hört: „Er ist noch zu klein, um zum Tire dié zu gehen.“ […] (Verena Teissl) Wird zusammen gezeigt mit Chircales und Ilha das flores . Lesen Sie den gesamten Text, sowie weitere Beiträge zur Retrospektive 2007 in der VIENNALE-Publikation Der Weg der Termiten. Beispiele eines Essayistischen Kinos 1909–2004.

Credits
  • Guillermo Cervantes Luro
  • María Rosa Gallo
  • Francisco Petrone
Instituto de Cinematografía de la Universidad Nacional del Litoral, Edgardo Pallero
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