PIERROT LE FOU
[…] «Fragmente eines Films» nannte Godard schon seine Femme mariée – doch erst auf Pierrot le fou paßt dieser Untertitel ganz. Hier vollends gibt der Autor nicht mehr vor, einen kompletten Entwurf von Welt, eingefangen in den Definitionen eines Werks, zu präsentieren, sondern spiegelt sich das Fragmentarische und Vorläufige seiner wie jeder ehrlichen Erfahrung unserer Wirklichkeit in seiner Kunst, macht er sie dieser zum Gegenstand. Pierrot ist vor allem ein Film über das Verhältnis von Kunst und Leben, freilich keine Meditation vom sicheren Port, bei der die beiden Bereiche säuberlich getrennt erscheinen und in produktivem Polarismus aufeinander bezogen, sondern das Protokoll der abgründigen Erfahrung, daß Kunst – und alles, wofür sie traditionell steht – das Leben nicht mehr faßt. Es sei denn, sie wäre wie dieser Film. Pierrot hat zur Folie, was klassische, «heile» Literatur gern zur Basis hat: die Metapher der Reise. Man kann seinen Inhalt (der nicht sein Thema ist – muß man’s noch sagen?) erzählen wie einen Reisebericht. Es beginnt damit, daß Ferdinand Griffon seine frühere Freundin Marianne Renoir wiedertrifft. Er ist vorteilhaft verheiratet, sie mit einem Mann liiert, der in irgendwelche Waffenschmuggelgeschichten verwickelt ist. Sie tun sich zusammen, verlassen Paris, fahren nach Süden. Da sie verfolgt werden, täuschen sie einen Autounfall vor, bei dem ihr Wagen verbrennt, gehen zu Fuß weiter, stehlen einen anderen Wagen und erreichen endlich die Riviera. Eine Zeitlang leben sie auf einer einsamen Insel. Dann tauchen die Gangster wieder auf, die Verfolgten verlieren sich aus den Augen. In Toulon trifft Ferdinand Marianne wieder, die inzwischen ihren angeblichen Bruder getroffen hat, der gleichfalls mit dunklen Geschäften zu tun hat. Nachdem Ferdinand im Auftrage des «Bruders» den rivalisierenden Gangstern eine Geldkassette abgenommen hat, muß er erahren, daß jener in Wahrheit Mariannes Geliebter ist. Er verfolgt sie und erschießt sie. Dann begeht er Selbstmord. […] Enno Patalas «Filmkritik», Februar 1966