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SUJET V21

Die Welt ist mehr als genug - Gedanken zum Sujet der Viennale 2021

28 Aug. 2021

Die Welt ist mehr als genug - Gedanken zum Sujet der Viennale 2021

Der 1848 in Illinois geborene Levi Walter Yaggy war ein äußerst umtriebiger Mensch. Er arbeitete als Erfinder, Verleger, Kartograph und Autor. In gewisser Weise würdigt die Viennale 2021 diesen Mann mit dem Sujet, einem Ausschnitt seines Schaubilds Nature in Descending Regions

Wie stark und bedrohlich dieser Titel in der heutigen Welt nachhallt, konnte Yaggy schwerlich wissen, aber es lässt sich kaum leugnen, dass man Bilder des Meeres und der gerade noch so aus dem Salzwasser ragenden Natur heute immer unter dem Gesichtspunkt einer bedrohten Welt betrachtet. 

Fragen an das Kino

Yaggy freilich bildete auf seiner Tafel, die Teil einer zehnteiligen Holzmappe war und recht beliebt für den Geographieunterricht in Schulen eingesetzt wurde, vor allem die Unterwasserregionen ab und entschied sich daher für den Titel. Dass wir uns für den Ausschnitt entschieden haben, auf dem nicht nur menschliche Spuren (ein Dampfschiff aus dem Industriezeitalter am Horizont), sondern auch die ohne spezielle Taucherausrüstung sichtbare Welt abgebildet wird, ist kein Zufall.

Was für eine Rolle spielt das Kino in dieser Welt? Diese Frage stellt sich die Viennale Jahr für Jahr und jedesmal, wenn man glaubt, eine Antwort gefunden zu haben, ändern sich die Welt oder das Kino und vor allem die Fragen, die wir haben. Das Sujet dieses Jahr legt zwei Überlegungen nahe.

Alles verschwindet

Zum einen geht es um die Notwendigkeit des Sehens, des Sichtbarmachens. Wie können wir die noch vorhandenen Wunder und ihre dauernde Zerstörung sehen? Wie können wir hinter diese Aspekte des Lebens auf dem Planeten Erde blicken, um die Systeme offenzulegen und ganz im Sinn unserer Retrospektive „Film as a Subversive Art 2021“ das zu hinterfragen, zu kritisieren, anzugreifen, was uns als Leben verkauft wird?

Das Kino kann hier ein Atlas sein, der uns aus der Welt berichtet. Allerdings trägt dieser Atlas die Welt nicht auf den Schultern, sondern wird vielmehr von der Welt getragen. Filme aus den verschiedensten Regionen der Erde werden uns auch dieses Jahr die Möglichkeit einer sinnlichen, intellektuellen Erfahrung von Vielstimmigkeit, politischem Aufbegehren und des Lebens auf der Erde geben. In diesem Sinn entspricht das Festival der Schautafel Yaggys. Es zeigt, was es noch zu sehen gibt. Wie Cézanne einmal sagte: „Es steht schlecht. Man muss sich beeilen, wenn man noch etwas sehen will. Alles verschwindet.“

Bilder für die Zukunft

Gleichzeitig diente sein Bild ja einem ganz bestimmten Zweck, nämlich der Erziehung von Kindern. Mit den Schaubildern lieferte Yaggy Empfehlungen für den Unterricht. Kurze Texte, die dem Nachwuchs die Geographie näherbringen sollten. Die pädagogische Funktion des Kinos wird jenseits des Schulunterrichts oft ignoriert und in Kunstkontexten gar abwertend betrachtet. In Wahrheit aber ist das Kino eine einzige Schule.

Die Schüler sind wir alle, die Zuschauer und Filmemacher, Frauen und Männer, Jung und Alt und wir lernen über Liebe, Zwischenmenschlichkeit, Gesellschaft, Geschichte, Angst, Politik, Identitäten und vieles mehr. Kurz: wir lernen über das Leben. Dass in diesem Jahr Bildung und das, was man Coming-of-Age nennt, besonders im Fokus der Filmauswahl steht, erlaubt uns von Neuem darüber nachzudenken, was für Bilder wir in die Zukunft schicken wollen und welche Welt auf den Schautafeln der Zukunft noch abgebildet werden kann. Gleichzeitig können wir wieder staunen, trauern, wütend werden, träumen, lernen, verstehen, vergessen, erkennen, mit jedem Film so, als wäre es der erste, den wir je gesehen haben. 

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