Retro: Chantal Akerman

UN DIVAN à NEW YORK

Eine Couch in New York
Chantal Akerman
FRA, B, DEU 1996
107 min
V'11

Seit ihrem ersten großen Erfolg mit Jeanne Dielman sucht Akerman nach den Löchern in unserer Wirklichkeit, entwickeln ihre Filme einen eigentümlichen Charme des Porösen. In Un divan à New York geht es um Psycho- und andere Analysen; dennoch sorgt Akerman selten für Aufklärung. Sie interessiert sich eher für Mißverständnisse und Völkermischmasch; Reibungsflächen sind ihr lieber als Versöhnlichkeit. Risse entstehen hier in der glatten und kühlen Oberfläche der New Yorker Schickeria, wenn ein Analytiker-Yuppie sich auf die Wurzeln seiner Existenz besinnt, auf die Ursprünge seiner Kunst, und sich zurückbegibt nach Paris. Henry Harriston (William Hurt) hält Ordnung in seiner Welt, in Privatleben und Beruf: Brav arbeitet er seine Termine ab mit gequälten, gehetzten Patienten; dazwischen lauscht er einer Bach-Partita und wirft gelassene Blicke über die Skyline von Manhattan, denkt vielleicht an die bevorstehende standesgemäße Hochzeit. Aber dann gibt er eines Tages eine Anzeige auf in der «Herald Tribune» und tauscht sein Luxusapartment für drei Wochen gegen eine Bleibe in Paris. So landet er in Ménilmontant, unter Arabern, Schwarzen und Franzosen, in der Wohnung von Béatrice, zwischen den Krümeln ihrer Existenz. Béatrice (Juliette Binoche) wiederum zieht nach Manhattan, ins Apartment von Henry, von dem aus die Skyline aussieht wie ein künstlicher Prospekt, mit dem die Wirklichkeit komplett ausgeblendet werden soll. Und wie von selbst ergibt es sich, daß sie bald nicht nur seine Wohnung und seinen Hund, sondern auch seine Patienten in die Obhut genommen hat. Sie versucht mit dem Freudschen Begriff der Übertragung zurechtzukommen. Dann kommt Henry wieder heim nach New York und begibt sich in die Behandlung bei ihr, unter dem Namen John Wire. Mit John Wire fängt der Film nochmal von vorne an, denn Akerman ist fasziniert vom Ankommen, von jenen Momenten der Begegnung mit dem Neuen: wenn einer sich konfrontiert sieht mit einer völlig anderen Welt. Sogar die Heimat hat da nichts Vertrautes mehr, immer hat alles sich verändert, ist der Rückkehrer sich selbst fremd geworden. […] Seit Jeanne Dielman kennt Akerman ein großes Thema, die Prostitution und ihre Spielarten in unserem Alltag – und wie Liebe und Schutzbedürftigkeit darin verwickelt sind. Selten haben im modernen Kino Hundertdollarnoten mit so schöner Regelmäßigkeit und Unbefangenheit den Besitzer gewechselt wie in diesem Film nach den psychoanalytischen Sitzungen. Eine merkwürdig selbstverständliche Kommunikation in einer Komödie, die insgeheim vom Tod bestimmt wird. «I would prefer not to …», die berühmte Parole von Bartleby, dem Helden des Herman Melville, gibt die Richtung an, in der die Geschichte sich entwickelt, und macht den Film zu einem Akt des leisen Widerstands gegen die Vergänglichkeit und all das, was unausweichlich scheint. Fritz Göttler «Süddeutsche Zeitung», 29. August 1996

Credits
Les Films Balenciaga, France 2 Cinéma, M6 Films, Babelsberg Film, Paradise Films, RTBF
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