Retro: Chantal Akerman

DE L’AUTRE CôTé

From the Other Side
Chantal Akerman
B 2002
103 min
V'11

Wenn der Ausgangs- und der Endpunkt der modernen Phantome (der Illegalen), die den Film bevölkern, derart umkehrbar ist, muss man die Gründe, die das Drama verursachen, in der Mitte suchen. De l’autre côté ist also, über die Exploration einer monströsen Grenze hinaus, ein Grenzfilm in sich selbst: zwischen Dokumentation und Fiktion, persönlicher Zerrissenheit und Geschichte, Anschauung und informativer Genauigkeit. Innerhalb dieser Alternativen gibt es von Seiten Akermans nicht die geringste Aufgesetztheit: nur den Ausdruck eines Verfahrens und einer Moral. Ein reales Ereignis muss immer erzählt, dann durch das Bild – dieses große Stumme – bestätigt werden. Der Verlauf des Films ist so, dass es vom Eklat des Wortes ansatzlos zur Majestät der Orte geht, und von einer trockenen Darlegung zu einem unmittelbaren und dennoch mysteriösen Sinneseindruck. Deshalb folgt dem Gespräch mit der Frau, das zu Tränen rührt über die Erlebnisse ihres Sohnes und all der anderen Immigranten, wenig später ein langes und langsames Travelling auf einer der Grenze entlangführenden leeren Landstraße in der Nacht. Dies geschieht kommentarlos. Nur von hier aus, nach diesem Augenschein, kann man rübergehen auf die andere Seite: nach Arizona. Eine große Tafel zeigt an, dass man in eine andere Welt gekommen ist: «Stop the Crime Wave» heißt es da, in der Art eines Manifestes. Nach den Entbehrungen des Grenzübertritts empfängt die Immigranten also der Hass. Die Einheimischen sind bewaffnet. Die Grenze zwischen Mexiko und Kalifornien ist abgeriegelt worden, fortan müssen diejenigen, die in die USA wollen, durch die Wüste im Osten. Da ist kein Fluss, der Rio Grande ist weit weg: Der Ford-Western samt allen Legenden ist verschwunden. Die einzige Erzählung, die übrig geblieben ist, ist die von den ihre Ranches gegen die «Eindringlinge» verteidigenden weißen Farmern – «Eindringlinge», die sie verachten, selbst wenn sie kaum je welche angetroffen haben. Mehr Informationen zu diesem Thema etwa in The Man from Laramie von Anthony Mann. Oder in den täglichen Zeitungsnachrichten. Oder in den Reiseerzählungen von Nerval. Oder man fahre nach Sangatte [in dieser direkt am Meer gelegenen nordfranzösischen Stadt beginnt der unterseeische Teil des Eurotunnels]. Oder einfach den Film von Chantal Akerman zur Kenntnis nehmen: Der enthält all das. Olivier Joyard «Cahiers du cinéma», Juni 2002 Übersetzung von Johannes Beringer

Credits
AMIP, arte France, Paradise Films, Chemah I.S. Co-Produktion RTBF, SBS-TV Australia, YLE-TV2, Centre national de la cinématographie, Procirep, Centre du cinéma et de l’audiovisuel de la Communauté française de Belgique, Programme Media de l’Union européenne
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