Retro: Chantal Akerman

TOUTE UNE NUIT

Eine ganze Nacht
Chantal Akerman
B, FRA 1982
90 min
V'11

Das ist keine umfassende Geschichte, das sind vielmehr viele kleine Geschichten, die, mosaikartig zusammengesetzt, doch wiederum ein Ganzes ergeben, nämlich die Atmosphäre einer schwülen Sommernacht in einer Großstadt, die die Menschen nicht zur Ruhe kommen läßt. Doch was für die einen Erfüllung all ihrer Sehnsüchte bedeutet, das heißt zugleich für die anderen Einsamkeit und Enttäuschung, Warten und Verzweiflung. Chantal hat sich ganz der privaten Sphäre zugewandt, hat alles nächtliche Treiben außerhalb der drängenden, fordernden Gefühle außer acht gelassen, hat, was nicht als Kritik, sondern nur als Feststellung aufgefaßt werden sollte, all jene nicht beachtet, die auch des Nachts arbeiten müssen. Aber auch innerhalb ihres begrenzten Themas hat sie zusätzlich noch den Blick auf bestimmte Episoden eingeengt, auf das Warten, das sehnsuchtsvolle Aufeinanderzudrängen und dann wieder, nun schon am beginnenden Morgen des neuen Tages, auf den Abschied, der wehmütigen oder auch abrupten Trennung. Nie wird sie bei all ihren Beobachtungen indiskret, nie verletzt sie die private Sphäre, auch wenn sie die Begebenheiten einer Nacht, die für viele stehen mag, ungeschminkt zeigt. Das Verlangen zum Beispiel, das Menschen einander in die Arme fallen macht, das Wartende vor fremden Türen festhält, das Liebende auf leisen Pfaden wandeln läßt. Aber auch eine Gegenwelt kommt ins Bild: Ehen, die gefährdet sind, Menschen, die sich nichts mehr zu sagen haben. Einsame auch, die zu allerlei Medikamenten greifen. Und dann plötzlich wieder der Aufbruch, das Rasseln der Wecker, das Läuten der Telephone, das Auseinandergehen der Liebespaare: mit einem Male bestimmt wieder Nüchternheit die Szene, über der ein Hauch von Traum und Unwirklichkeit, von Rausch und Abgerücktsein von der Welt lag. Viele der Begegnungen dieser Nacht kommen nur kurz zur Geltung, während bei anderen immer wieder neue Situationen porträtiert werden, wodurch sich ein bunter Reigen der Begegnungen und Trennungen, der Hoffnungen und Enttäuschungen ergibt, ein Reigen, der durch die direkte, aber zugleich auch wieder zarte Annäherung Chantal Akermans an ihre Gestalten Authentizität, ja geradezu dokumentarischen Charakter gewinnt. Ein Spielfilm dennoch, wenn auch einer von sehr eigenwilliger Art, der Spiel ist und Experiment, der nüchtern beobachtet und gelöst interpretiert, der nichts erzählt, und doch zugleich so viele Erlebnisse parat hält, den man konzentrierter sich vorstellen könnte und der doch in der Fülle seiner Begebenheiten, in der Parallelmontage sich wiederholender Erlebnisse von eigenem Reiz ist, der vom Gleichklang der Empfindungen ebenso lebt wie vom Ausbruch der Gefühle. Volker Baer «Tagesspiegel», 7. April 1983

Credits
Paradise Films, Avidia Films, Gerick Films, Lyric Films, Partner’s Production, Centre Bruxellois
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