Retro: Chantal Akerman

JEANNE DIELMAN, 23 QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES

Chantal Akerman
B, FRA 1975
201 min
V'11

Der Film zeigt drei Tage im Leben Jeanne Dielmans, einer jungen belgischen Witwe, die mit ihrem sechzehnjährigen Sohn in einer kleinen Wohnung lebt. Die meiste Zeit verbringt sie alleine in der Wohnung, beschäftigt mit einer Unzahl an Hausarbeiten, die ihre Energien absorbieren: einkaufen, für ihren Sohn kochen, die Möbel abstauben, Körperpflege usw. Zu ihrer Routine gehört, daß sie jeden Nachmittag für Geld mit einem Mann schläft. Ihre Tätigkeiten werden so präzise und ausführlich gezeigt, daß, wenn am zweiten Tag die Ordnung aus irgendeinem Grund gestört wird, einem das sogleich auffällt: nachdem sie der Kunde des zweiten Tages verlassen hat, kämmt sie ihr Haar nicht wie üblich, sie läßt die Kartoffeln anbrennen, macht den Kaffee zu stark. Diese Abweichungen, wie auch Unliebsamkeiten ihrer Umgebung – das Kind der Nachbarin, auf das sie aufpasst, weist sie zurück; sie erhält ein enttäuschendes Geburtstagsgeschenk, ein Briefmarkenautomat ist leer – entladen sich am dritten Tag in einem Mord. Jeanne Dielman ersticht ihren dritten Kunden mit einer Schere. Danach sitzt sie lange am Eßtisch, von draußen dringt dämmriges Licht in den Raum, der bereits in jeder Einzelheit bekannt ist. «Ich hatte kein Interesse daran, zu zeigen, daß eine Frau den Abwasch macht oder Kartoffeln schält – alle Welt weiß, daß Frauen abwaschen und Kartoffeln schälen. Zehn Sekunden lang eine spülende Frau zu zeigen, wäre eine Szene auf der Informationsebene, während es die Zuschauer in meinem Film auf der Gefühlsebene trifft, als etwas Infernalisches und alles Mögliche. Wenn ich diese Vorgänge in ihrer tatsächlichen Länge vorführe, will ich damit etwas erreichen. Das ist ultrarealistisch, deshalb verletzt es, deshalb geht es weit über die Person Jeanne Dielman hinaus. In Filmen sind die wichtigsten, die effektivsten und stärksten Bilder jene von Verbrechen, Autojagden usw., und nicht eine Frau, die von hinten gezeigt wird, wie sie Geschirr spült. Bei mir wird das auf derselben Ebene wie der Mord gezeigt. In der Tat denke ich, daß es dramatischer ist. Wenn sie ein Glas auf den Tisch stellt und man glaubt, die Milch könnte verschüttet werden, ist das ebenso dramatisch wie der Mord. Aber der Mord war etwas, das logischerweise geschehen mußte. Für mich gab es nur zwei Lösungen: Entweder sie bringt sich selbst um oder sie tötet jemand anderen. Natürlich steckt etwas von mir im Film, und ich würde jemand anderen umgebracht haben. Manche Leute hassen diesen Mord und sagen: «Du solltest puristischer sein. Wenn Du eine Frau beim Geschirrspülen zeigst, kannst Du keinen Mord zeigen.» Ich glaube nicht, daß das richtig ist. Die Stärke des Films besteht darin, beides zu zeigen; und er endet ja auch nicht mit dem Mord, es gibt danach sieben starke Minuten. Viele Leute sagen, daß es schade wäre, diesen Mord im Film zu haben, weil er ohne ihn viel innovativer gewesen wäre. Ich bin ganz anderer Auffassung. Wenn der Mord nicht gewesen wäre, hätte es am Ende keine Sentimentalität gegeben, und das hätte ich nicht gewollt. Wenn man von etwas schreibt, von dem das Ende genauso ist wie der Anfang, ist das wirklich langweilig. Es ist sehr klischeehaft, kein Ende zu haben. Ich denke auch, daß man Bilder, von denen angenommen wird, sie stünden in der Hierarchie der Bilder sehr tief unten, mit solchen zusammenbringen kann, die in dieser Hierarchie hoch oben stehen.» Nora Seni «Andere Avant Garde», Brucknerhaus Linz 1983

Credits
Paradise Films Bruxelles, Unité Trois Paris, Ministère de la culture française de Belgique
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