Retro: Chantal Akerman

UNE CHAMBRE EN VILLE

Ein Zimmer in der Stadt
Jacques Demy
FRA 1983
95 min
V'11

Ist das nun, da viel von Streik die Rede ist und sich mitunter Polizei und Demonstranten aggressiv gegenüberstehen, ein sozialkritischer Film? Ist das, weil viel von Begehren gesprochen wird, ein Liebesfilm? Ist es gar, weil Mord und Selbstmord einander ablösen, ein Kriminalfilm? Wohl kaum etwas von all diesen Kategorien. Wer also aufs Etikettieren Wert legt, wird sich zunächst schwert tun, Jacques Demys jüngste Inszenierung in ein bestimmtes Genre einzuordnen. Zu allem, und das unterscheidet die Arbeit von den meisten Produktionen ihrer Umgebung und ihrer Zeit, wird von Anfang bis zum Ende gesungen. Jedes Wort, und sei es noch so banal, wird zu oftmals aufbrausender Musik im Sprechgesang geboten, wobei übrigens allein Danielle Darrieux und Fabienne Guyon auch den Gestalten, die sie interpretieren, ihre Gesangsstimmen leihen. Polizisten mit Helm und Schild singen ebenso unbekümmert wie die streikenden Demonstranten, die ihnen in den engen Straßen von Nantes, wo der Film im Jahr 1955 spielt, die Stirn bieten. Das allein schon mag eine Novität in der gegenwärtigen Filmlandschaft sein, in der vieles bitterernst genommen und vieles andere allzu oberflächlich betrachtet wird. Jacques Demy, der seit Anfang der siebziger Jahre an der Vorbereitung seiner Inszenierung gearbeitet hat, schwimmt also gegen den Strom der Moden und Trends. […] Jacques Demy, der vor zwei Jahrzehnten durch seinen Musik-Film Die Regenschirme von Cherbourg bekannt geworden ist, bedient sich der Musik von Michel Colombier mit Witz und Wirkung, wobei er mal großes Drama, mal kleine Kammeroper spielen läßt, mal sich eines großen Orchesters bedient, mal sich auf leise Klavierklänge beschränkt – ein Musikfilm von ganz eigenem Charakter, der sich mit den Vorstellungen vom Musical nur unbefriedigend in Einklang bringen läßt. Demy spielt mit den Formen des Musikalischen, wie er auch mit den Formen des Inszenatorischen experimentiert, wenn er sich zwischen gewollter Theatralik und melancholischer Wirklichkeit bewegt, wobei am Rande auch der Kitsch bewußt in Kauf genommen ist. Demy, dessen Film bereits auf dem Forum der diesjährigen Berliner Filmfestspiele einmal vorgestellt wurde, erweist sich wie schon in manchen seiner früheren Arbeiten als Einzelgänger. Wollte man ihn einzuordnen versuchen in ein starres Gerüst, man würde sich in der Tat schwertun. Man sollte lieber den Esprit der Szene und den Schmelz der Fabel, unbekümmert um Kategorien, genießen. Volker Baer «Der Tagesspiegel», 15. Juli 1984

Credits
Philippe Verro, Christine Gouze-Renal
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