Retro: Chantal Akerman

PORTRAIT D’UNE JEUNE FILLE DE LA FIN DES ANNéES 60 à BRUXELLES

Chantal Akerman
FRA 1993
62 min
V'11

Ich du er sie schlendern / wir reden. Die sechzig bewundernswert genauen und dennoch nie korsettierten Minuten dieses Porträts … gehen einher mit einem schönen Sinn für den Swing zwischen den beiden Modernitätspolen des Kinos. Akerman fügt diskret eine Prise Autobiografie (die ihre?) bei, hält jedoch Distanz, so dass die Versuchung des Monologisierens durch die Subtilität der Dialoge in Schach gehalten ist. Das ergibt eine hübsche Balance für diesen zusammenfassenden und sich öffnenden Film, der, wie ein Zwischentitel anzeigt, kurz vor dem großen Ausbruch situiert ist: April 1968. Michèle, 18-jährig, stellt stärkere Theorien über ihr Leben an, während sie es lebt, als wenn sie immobil auf den Bänken des Gymnasiums darüber reflektierte. Sie schwänzt die Stunden und treibt sich auf den Straßen herum. Sie tut sich im Mitreden hervor. Liebe, Traurigkeit, Einsamkeit sind ihre Themen der Saison. Akerman nimmt das auf, folgt ihr, kreist sie ein, je nachdem, und verpflichtet sie dann, während einiger vulkanischer Augenblicke der Wandlung, sich der Lücke der Andersheit zu stellen, aus ihrem Kokon herauszukommen, ihren Körper zu erziehen im Kontakt mit ersehnter fremder Haut, ihre Sinne der Musik zu überlassen. Das Kino und ein Junge sind zur selben Zeit da. «Die große Sache des Lebens, das ist der Sex», sagt der schöne Paul, auf den Michèle im dunklen Saal gestoßen ist. Wenig später, als er seine Weisheit in die Praxis umsetzen will, flüstert sie ihm zu: «Mir wäre es lieber im Dunkeln.» Schwer zu verstehen ist das nicht: Michèle wird schauen lernen, selbst im Dunkeln – und wir mit ihr. Aber das ist schwer zu bewerkstelligen. Deshalb, zwangsläufig, eine gewisse Gewaltsamkeit der Defloration. Eine Chronik des Erwachsenwerdens (im Rahmen der arte Serie «Tous les garçons et les filles de leur âge») hat für die Cineastin fast nichts mit den ihr zukommenden Zeichen zu tun, den Chansons, den Kleidern, den Frisuren oder den Sprachmoden. Wenn auf der Tonspur ein «Yé-yé» losdröhnt, dann nicht aus nostalgischen Gründen: Es geht darum zu begreifen, was das physisch bedeutet – einen Song hören –, die Welt, die er schafft, das Imaginäre, das er behauptet. Akerman nähert sich der Haltung des Erwachsenwerdens, dem Konflikt, den sie kinematografisch heraufbeschwört (ohne dass der Film je eine Allegorie würde), durch das, was man sehen will, und durch das, was sich uns enthüllt. Portrait d’une jeune fille de la fin des années 60 à Bruxelles ist der Film des Missverhältnisses zwischen dem ersten Begehren (was das Sehen, das Sprechen, das Handeln, das Berühren, das Ausprobieren – kurz die Sinne – angeht) und den noch wenig fassbaren Objekten dieses Begehrens. Dieser Film wird gemeinsam gezeigt mit Chantal Akerman par Chantal Akerman .

Credits
Paradise Films, IMA Productions, SFP Productions Co-Produktion La Sept/arte, Sony Music Entertainment, Centre national de la Cinématographie, Greco-programme Media de la Communauté européenne
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