Retro: Chantal Akerman

D'EST

Chantal Akerman
FRA, B 1993
115 min
V'11

Der Zuschauer als Reisender D’Est reflektiert ein Erforschen der verschwindenden Grenzen des Kommunismus, dieses lange Zeit sinnbildlichen, teilweise unergründlichen Territoriums, dessen Undurchsichtigkeit heute eigenartigerweise weit davon entfernt ist, sich aufzuklären, vielmehr im Hinblick auf die bekannten politischen Umwälzungen sich zu vergrößern und komplexer zu werden scheint. Von diesem mangelhaften Verständnis und einem dringenden Bedürfnis weniger nach Wissen als nach Empfindung getrieben, hat Chantal Akerman sich auf die Reise begeben und uns einen wunderbaren Dokumentarfilm mitgebracht, der sich weigert, von Ländern zu sprechen und die Dinge zu fixieren. Die Herangehensweise will impressionistisch sein, sie sträubt sich gegen jede reduzierende Symbolisierung. Es heißt daher nicht «Der Osten», sondern VON OSTEN, das bedeutet sowohl eine zwangsläufig enttäuschende Suche (im Ausland bleibt man immer Ausländer, vor allem heute), als auch ein Geschenk (das «von»). VON OSTEN gelangen neue Geheimnisse zu uns: heimlich, ohne etwas auszusprechen, in der Distanz enthüllen die Menschen etwas von sich und ihrer aus der Fassung geratenen Welt; dank des Einsatzes einer Kamera, die so präsent wie distanziert ist. Der in 16mm gedrehte Film besteht vor allem aus Außenaufnahmen, festen Einstellungen und Kamerafahrten. Kein Kommentar, fast kein einziges Gespräch stört unsere Wahrnehmung. Nur der Widerhall von Tönen erreicht uns gleichsam, wie identifizierbare Zeichen: das Geräusch des eisigen Windes, eine bei jemandem gehörte Musik, das Dröhnen der Autos. D’Est ist eine Reise mit langem Atem, wobei der Zuschauer wie ein Reisender abwechselnd erschöpft, unternehmungslustig, aufmerksam oder abwesend ist. Es geht vom Sommer zum Winter, vom flachen Land in die Stadt, von den Vorstädten ans Meer, von Polen nach Rußland, ohne daß all diese Orte explizit benannt würden. Der Zuschauer wird ebenso geführt wie auch sich selbst, seinen Gedanken, seiner Neugierde überlassen. Die erste Hälfte des Filmes zeigt vor allem Landschaften: ein vereinsamter, wogender Baum mitten in der Ebene, eine Kreuzung auf dem verlassenen Land. Das Bild vibriert, hier kann alles geschehen. Die Geheimnisse des Ostens enthüllen dann Menschenansammlungen am frühen Morgen oder in der Nacht, gespenstische Gruppen eingemummelter Menschen, die warten – auf den Zug, den Bus, das Ende der Welt, man weiß es nicht. Gesichter betrachten uns oder scheinen die Gegenwart der Kamera zu ignorieren, deren hypnotisierende Fahrten von seltener Qualität sind. Man hat den Eindruck, als habe Akerman wiederholt, als sei sie mehrmals an denselben Ort zurückgekehrt, um die Atmosphäre tiefer in sich aufzunehmen. Wie jeder große Dokumentarfilm ist D’Est voll potentieller Fiktionen. Jacques Morice «Cahiers du Cinéma», Nr. 472, 1993, zitiert aus: «24. Int. Forum des jungen Films», Berlin 1994

Credits
Lieurac Production, Paradise Films, La Radio Télévision Portugaise Co-Produktion Centre de l’audiovisuel à Bruxelles (CBA), RTBF (Carré Noir), Communauté française de Belgique et la Loterie nationale, La Sept/arte, Fonds Eurimages du Conseil de l’Europe
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