Das Kino des Jacques Rivette

CINéMA DE NOTRE TEMPS: JEAN RENOIR, LE PATRON (2, 3)

Jacques Rivette
171 min
V'02

Teil 2: La direction d’acteurs Die zweite Folge besteht aus einem langen Gespräch bei Tisch zwischen Jean Renoir und Michel Simon. Im Gespräch geht es um die Dreharbeiten zu La chienne und Boudu, sauvé des eaux und um zahlreiche Anmerkungen zur Schauspielerführung und Inszenierung. Henri Cartier-Bresson fotografiert die Runde – ein Porträt von zwei Männern, die einander schätzen, von zwei Komplizen, die ständig zwischen tiefgründigen Überlegungen und schallendem Gelächter hin- und herwechseln. Michel Simon war schon zu Beginn seiner Karriere von Legenden umwoben. Man sagte ihm ein besonderes Interesse an den ungewöhnlichsten sexuellen Spielen nach. Er stritt es nicht ab. Ich glaube sogar, das Gerede amüsierte ihn. Mit einer seltenen Sicherheit erkannte er die Dummheit und den schlechten Geschmack unserer Zeit und stellte ihn bloß. Mit seinem Glauben an unpräparierte Nahrung war er seiner Zeit weit voraus. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass die fermentierten Käse heute überhaupt keine Maden mehr haben. Wenn man in meiner Jugend vergaß, ein Stück Camembert zuzudecken, konnte man sicher sein, dass er am nächsten Tag von Würmern wimmelte. Heute sind die Würmer aus der Käserinde verschwunden, weil man der Milch chemische Produkte zusetzt. Michel Simon trauerte der Zeit der Maden ehrlich nach: «Man brauchte doch nur die Kruste abzukratzen, dann waren die Viecher weg.» Für ihn war diese Madengeschichte das Symbol der modernen Zeit, die die Qualität der Bequemlichkeit opfert. Wenn man auf seine vermeintliche Perversität anspielte, antwortete er: «Das einzige Ding auf der Welt, das noch ein bisschen lebendig ist, das ist die Klitoris einer Frau.» Er war vernarrt in Tiere, vor allem in Affen. Manche Leute behaupteten, er unterhielte sexuelle Beziehungen zu einer Äffin. Ich habe meine Zweifel an der Echtheit der Extravaganzen, die man ihm nachsagte. Was das Affenweibchen betrifft, so kann ich mich jedenfalls für die Reinheit dieser Liaison verbürgen. Dieses Tier zeigte eine seltene Zuneigung zu ihm. Es war ein Bedürfnis nach Liebe, eine rührende und vollkommen reine Liebe. (Jean Renoir, «Ma vie et mes films», 1974. Deutsch von Frieda Grafe und Enno Patalas.) Teil 3: La règle et l’exception Ich glaube, das ist das Großartige, was wir Kunst nennen: Das Öffnen eines Fensters, zu etwas hin, was das Publikum nicht wahrgenommen hat, und bei dieser Gelegenheit mit dem Publikum eine kleines Gespräch zu führen, ein freundschaftliches Gespräch. Aus diesem Grund glaube ich nicht an den Unterschied in der Wichtigkeit der Werke. Entweder hat ein Künstler dieses Interesse oder er hat es nicht. Entschuldigen Sie, das war falsch: Ich müsste sagen, entweder mag ich ihn oder ich mag ihn nicht, entweder ist er mein Freund oder er ist es nicht. Wenn er mein Freund ist, wenn ich ihn mag, kann er alles Mögliche sagen. Irgendetwas von einem Mann, den man mag, von einem Freund, das ist viel interessanter als tiefe Wahrheiten von einem Unbekannten. Ich glaube, das hat in der Kunst eine große Bedeutung. Man muss den Künstler mögen. Ich erinnere mich an eine kleine Geschichte mit meinem Vater: Ich spielte Klavier, als ich klein war, und ich spielte es sehr schlecht, und eines Tages legte ich Gefühl in meine Spielweise wie alle schlechten Pianisten. Ich spielte ein kleines Stück. Mein Vater unterbrach mich und sagte: «Was sagst du da, was spielst du da?» Ich antwortete: «Das ist von Mozart.» Er sagte: «Was für ein Glück, ich habe schreckliche Angst gehabt!» «Du hast Angst gehabt, wovor?» Er sagte: «Ich mochte das, und ich hatte Angst, es wäre von Beethoven.» Er verachtete Beethoven. (Jean Renoir vous parle de son art. Entretien avec Jacques Rivette, «Cahiers du cinéma» (Sonderheft): Jean Renoir: «Entretiens et propos». 1979. Aus dem Französischen übersetzt von Ralph Eue.)

Credits
  • Michel Simon
  • Jean Renoir
  • Marcel Dalio
  • Pierre Braunberger
  • Catherine Rouvel
  • Charles Blavette
ORTF
Related Movies