Das Kino des Jacques Rivette

POLA X

Leos Carax
FRA 1999
134 min
V'02

Ob man Pola X nun als maßlos absurdes Fiasko oder als unwahrscheinlichen Triumph romantischer Verwegenheit sieht (tatsächlich ist es ein wenig von beidem) Léos Carax intensives visuelles Vorstellungsvermögen und Engagement lassen sich nicht bestreiten. Sein Akt der Überheblichkeit und kommerziellen Perversion in der Aktualisierung und Versetzung von Herman Melvilles schonungslos verrissenen Roman «Pierre, or the Ambiguities» aus dem Jahr 1852 ins heutige Frankreich, kann mehrfach gedeutet werden. Carax, ein Spross der Dupont-Dynastie, stammt aus ähnlichen Verhältnissen wie Pierre. Er hat mehrmals zu verstehen gegeben, dass dieses Buch viele Jahre lang wichtig für ihn war, und insofern ist es kein voreiliger Schluss, in Pola X ein hohes Maß an Wiedererkennungs-Faktoren von Melvilles kritischen und kommerziellen Missgeschicken zu sehen. Der Titel des Films, ein Akronym für den französischen Titel des Romans («Pierre, où les Ambiguitiés»), stellt den Akt der Adaptierung in den Vordergrund und erinnert uns an den Willen des Autors. Einerseits ist der Film ein unverwechselbarer, wenn auch masochistischer Akt der Selbstparodie, vergleichbar mit jener von Melville. Selbst wenn es die Komödie über Pierres Metamorphose von einem graziösen, schreibenden Müßiggänger zu einem karikierten Hungerkünstler nicht gäbe, besteht kein Zweifel, dass die Roman-Einschätzung des Herausgebers («ein irrer Morast, der nach Plagiat stinkt») gerechtfertigt ist. Andererseits repräsentiert der Film in seiner geistesgestörten Großartigkeit eine aufsässige Verweigerung, vor jeglichen kommerziellen Vorschriften zu kapitulieren und das nach dem Misserfolg von Les amants du Pont-Neuf und acht Jahren, in denen Carax in der Versenkung verschwand. Gleichzeitig, und in größerem Ausmaß als in seinen bisherigen Filmen, hat Carax die Erzählung von Pola X mit jeder Menge tiefer metaphorischer Bedeutung ausgestattet. Pierres Beziehungen zu seiner Mutter und zu Thibault sind mit Andeutungen an frühere oder latente sexuelle Interessen versehen. Pierre und Marie nennen einander «Bruder» und «Schwester» und genießen ein ausnehmend hohes Maß an Intimität. Pierres blonde Verlobte Lucie und die dunkle Heimatlose Isabelle scheinen zwei ebenso passive Manifestationen von Pierres implizierter psychosexueller Krise zu sein. Lucie ist kaum mehr als eine Projektion von Pierres eigenem narzisstisch-aristokratischen Anspruch, aber als seine Cousine und als Spiegelbild seiner Mutter stellt sie den nächstbesten Ersatz für Marie dar. Gavin Smith: «Pola X» , aus: «Sight and Sound», No. 6, Juni 2000. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Andrea Schellner.

Credits
  • Catherine Deneuve - Marguerite
  • Delphine Chuillot - Judith
  • Guillaume Depardieu - Pierre
  • Katerina Golubeva - Isabelle
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