Retro Warhol

POOR LITTLE RICH GIRL

Andy Warhol
USA 1965
66 min
V'05

Im März 1965, ein paar Monate nachdem er seine erste Tonkamera gekauft hatte, begann Warhol eine Reihe von Filmen über Edie Sedgwick zu drehen, jene schöne junge Erbin, die er kurz zuvor kennen gelernt hatte. The Poor Little Rich Girl Saga, wie die erweiterte Serie zu Beginn hieß, beinhaltete neben diesem Film auch Restaurant, Face und Afternoon. 1 Der Titel Poor Little Rich Girl ist eine Reverenz an den gleichnamigen Film mit Shirley Temple aus dem Jahr 1936, in dem ein acht Jahre altes Mädchen von ihrer reichen Familie davon läuft, um mit einer Varieté-Gruppe aufzutreten eine Situation vergleichbar mit der Edies, die vor ihrer tragischen, reichen Familie in Kalifornien geflohen war, um sich Warhols Welt der Underground-Kunst anzuschließen. In seiner Kindheit war Shirley Temple Warhols Idol gewesen; er hatte ein signiertes Autogramm von ihr angefordert, das zu seinem wertvollsten Besitz wurde. Im Unterschied zu den elaborierteren Handlungen von Vinyl und The Life of Juanita Castro, an deren Drehbuch Warhol zu dieser Zeit mit dem Autor Ronald Tavel arbeitete, sind die Edie-Sedgwick-Filme im Grunde ausgedehnte Porträts; man kann sie sogar fast als Dokumentationen betrachten Edie wird einfach und ohne Drehbuch als «sie selbst» gefilmt, in Szenen, die ihrem tatsächlichen Leben entnommen sind. Warhol hatte ursprünglich die Idee, einen ganzen Tag, 24 Stunden, aus dem Leben von Edie zu filmen. Auch wenn dieser lange Film nie realisiert wurde, können diese kürzeren Sedgwick-Filme als einzelne Folgen innerhalb dieses größeren Projekts betrachtet werden. Warhol war der Meinung, Edie sei so selbstbewusst und faszinierend, dass sie einfach nur sich selbst spielen müsse, um einen Film in Spielfilmlänge zu tragen: «Um das arme kleine reiche Mädchen in diesem Film zu spielen, brauchte Edie kein Drehbuch hätte sie ein Drehbuch gebraucht, wäre sie nicht die Richtige für die Rolle gewesen.»2 Poor Little Rich Girl mag zwar einfach gefilmt sein, er ist dennoch einer von Warhols anspruchsvolleren Filmen, da die erste 33-minütige Rolle völlig unscharf ist. Aufgrund eines technischen Problems mit dem Objektiv waren beide Rollen nach dem ersten Dreh unscharf. Warhol drehte den Film noch einmal und wählte dann eine Rolle jeder Fassung als endgültige Version aus.3 Die erste, unscharfe Rolle zeigt Edie in ihrem Apartment beim Aufwachen und wie sie ihren morgendlichen Betätigungen nachgeht, Kaffee und Orangensaft bestellt, Zigaretten raucht, ihre Gymnastikübungen macht, Tabletten einnimmt, Make-up auflegt. Abgesehen von der wehmütigen Musik der Everly Brothers wird all dies in Stille vollführt. Die verschwommenen Bilder sind manchmal fast unlesbar, manchmal erinnern sie vage an die impressionistischen Gestalten auf einem Bild von Renoir. Nach 33 Minuten Film, in dem wir Edie kaum sehen noch hören können, kommt die zweite, scharf gestellte Rolle wie eine Art Offenbarung, in der eine plötzlich sichtbare Edie Marihuana raucht, Kleider anprobiert und dann und wann mit einem sich außerhalb des Bildes befindenden Chuck Wein spricht. Der Kontrast zwischen der romantischen Flüchtigkeit der ersten und der realistischen Unmittelbarkeit der zweiten Rolle erzeugt einen minimalistischen Handlungsbogen von visuellem Suspense hin zu einer Wiederherstellung des Bildes, in dem Edies außergewöhnlich lebhafte, verletzliche Präsenz in einem subtilen Drama von Verlust und Heilung buchstäblich fokussiert wird. Callie Angell, «The Films of Andy Warhol: Part II», Whitney Museum of American Art, N.Y. 1994 Übersetzung von Dagmar Fink

Credits
  • Edie Sedgwick
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