Art Theatre Guild

KôSHIKEI

Tod Durch Erhängen
ôshima Nagisa
Japan 1968
119 min
V'03

In den 60er Jahren rief Ôshima Nagisa bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Publikum auf, den Blick auf die Existenz der in Japan lebenden Koreaner zu lenken und sie historisch als Widerspruch der japanischen Nachkriegsgesellschaft zu betrachten. In der anklagenden Dokumentation Wasurerareta kôgun (The Forgotten Army, 1963) beschäftigte sich Ôshima mit jenen Koreanern, die während des Krieges als Soldaten der kaiserlich-japanischen Armee kämpften, schwer verwundet wurden und, ohne von der japanischen Regierung jemals entschädigt worden zu sein, nach dem Krieg ihrem Schicksal überlassen wurden. In Nihon shunka-kô (A Treatise on Japanese Bawdy Songs, 1967) verhöhnte er die Ursprünge Japans als göttliche Nation und erklärte lautstark, dass die Vorfahren des japanischen Kaiserhauses von der koreanischen Halbinsel stammten. In der schwarzen Komödie Kaette kita yopparai (Three Resurrected Drunkards, 1968), in der ein vom Vietnamkrieg desertierter koreanischer Soldat sich als Japaner ausgibt, drehte Ôshima die Tatsache, dass Japaner und Koreaner von ihrem Äußeren her kaum voneinander zu unterscheiden sind, um, und kritisierte das Diffuse der japanischen Identität. Kôshikei ist unter Ôshimas Filmen zu diesem Thema das experimentellste, nachdenklichste und im Brechtschen Sinne distanzierteste Werk. Der Film ist eine äußerst abstrakte Abhandlung einer tatsächlichen Begebenheit aus dem Jahr 1959. Ein koreanischer Oberschüler wurde damals wegen einer Vergewaltigung mit Todesfolge zum Tod verurteilt. Der Jugendliche R wird zum Galgen geführt. Die Hinrichtung wird vollzogen, doch der junge Mann stirbt nicht, sondern verliert nur sein Gedächtnis. Die anwesenden Vertreter des Staates Polizeichef, Staatsanwalt, Gefängnisdirektor, Arzt und Priester wollen die Hinrichtung wiederholen, doch da deren Vollzug gesetzlich nur möglich ist, wenn der Todeskandidat seine eigene Identität kennt, versuchen sie R zu überzeugen, dass er Koreaner sei, ein elendes Leben geführt habe, deswegen ein Verbrechen beging und nun exekutiert werden müsse. Keiner kann jedoch eine befriedigende Antwort auf Rs Frage geben, was es denn bedeute, Koreaner zu sein, und warum er Koreaner sei. Die Repräsentanten des Staates können bloß auf recht komische Art und Weise die japanischen Stereotype gegenüber Koreanern bildlich darstellen. An dieser Stelle taucht eine rätselhafte Frau auf, die vorgibt, die Schwester des Angeklagten zu sein. Sie erklärt ihm, dass er ein prächtiger Koreaner sei, und dass der japanische Staat, der eine historische Schuld gegenüber Korea habe, kein Recht habe, ihn zu verurteilen. Die Frau können nur einige der Anwesenden sehen, während sie für andere unsichtbar bleibt. R versteht weder, was die Japaner von ihm wollen, noch versteht er die Frau sorecht, die ihn von seinem Koreanertum überzeugen will. Er bekennt sich zu seinem Verbrechen, akzeptiert aber nicht, dass ihn der Staat dafür bestraft. Er kann aus der Todeskammer, sprich dem Staat, den er schon einmal abgelehnt hat, aber nicht entkommen. Kôshikei führt in der sich dahinziehenden Burleske sowohl auf einer rechtlichen, moralischen, politischen als auch historischen Diskursebene dem Zuseher die Unmöglichkeit vor Augen, dem real existierenden R seine eigene Identität zurückzugeben. Am Ende sagt R, er übernehme es, dass alle Menschen, die in derselben Lage seien wie er, zu seinem Selbst werden, und akzeptiert die Todesstrafe. Ôshimas bewunderungswürdiger Film wurde in einem verlassenen Kino im Zentrum von Tôkyô gedreht. Neben professionellen Schauspielern setzte Ôshima ihm nahe stehende Filmkritiker, Drehbuchautoren und Regisseure ein. Eine besondere Erwähnung verdient Adachi Masao als Polizeichef. Adachi, der auch den Trailer für Kôshikei drehte, schloss sich später der Japanischen Roten Armee an und kämpfte für die Befreiung Palästinas. Auf den ersten Blick scheint Kôshikei die Problematik der in Japan lebenden Koreaner sowie die Frage, ob Japan an der Todesstrafe festhalten solle, vorzuführen. Die wahren Fragen, die während des Fortlaufs des filmischen Textes aufgeworfen werden, sind jedoch folgende: Wie konstituiert/konstituierte/muss sich das Subjekt vor dem Staat konstituieren? Welche Beziehung besteht zwischen der Projektionsmaschine Kino und der Konstitution des Subjekts? Und was produziert die Ideologiemaschine Kino, wenn der Fall eintritt, dass sich das Subjekt aufgrund des Ausnahmezustandes eines vorübergehenden Gedächtnisverlustes nicht konstituieren kann? Kôshikei ist unter den 1968 produzierten japanischen Filmen einer der radikalsten. Dass der Film auch heute nichts von seiner Radikalität eingebüßt hat, ist Beleg dafür, dass in Japan das Jahr 1968 als Problem immer noch ungelöst ist. (Yomota Inuhiko) Seit Ri Chinu sein Verbrechen verübt hatte, dachte ich daran, einen Film darüber zu machen. 1963, ein Jahr nach seiner Hinrichtung, schrieb ich ein Drehbuch. Dazwischen beschäftigte ich mich in den Filmen Wasurerareta kôgun (The Forgotten Army, 1963), Seishun no ishibumi (The Tomb of Youth, 1964), Yunbogi no nikki (Yunbogis Diary, 1965) und Nihon shunka-kô (A Treatise on Japanese Bawdy Songs, 1967) mit dem Problem der Koreaner. Überdies versuchte ich in fast all meinen Filmen, das Problem des Verbrechens zu vertiefen. Beide Probleme kulminieren selbstverständlich in einem Punkt, nämlich im Staat. Der Staat legitimiert das Töten in zwei Fällen: bei Hinrichtungen und im Krieg. Wir lehnen beides ab und protestieren mit aller Entschiedenheit gegen die Anwendung der Todesstrafe. Um der Ablehnung und dem Protest die nötige Kraft zu geben, bedarf es der Stimme eines Menschen, der eine geistige Größe erlangt hat, die über den Staat hinausgeht. Aus diesem Grund haben wir in Anlehnung an Ri Chinu, der diese geistige Größe nahezu erreicht hat die Figur von R erschaffen, eines Menschen, der bei seiner Hinrichtung nicht gestorben ist. (Ôshima Nagisa im Flugblatt zu Kôshikei )

Credits
  • Yun Yun-Do - Todeskandidat R
  • Satô Kei - Gefängnisdirektor
  • Watanabe Fumio - Leiter der Bildungsabteilung
  • Ishidô Toshirô - Priester
  • Adachi Masao - Sicherheitschef
  • Toura Rokkô - Arzt
  • Matsuda Masao - Sekretär der Staatsanwaltschaft
  • Komatsu Hôsei - Staatsanwalt
  • Koyama Akiko - Frau
  • Ôshima Nagisa - Erzähler
  • Ueno Takashi - Wärter
  • Satô Shizuo - Wärter
  • Hoshi Masayuki
  • Ôsaka Yuki
  • Ozeki Daiji
  • Sakurai Keiko
  • Suzuki Kurumi
  • Terashima Akiko
  • Usui Takao
Produktion Sôzôsha, Art Theatre Guild of Japan
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