Retro: Chantal Akerman

HISTOIRES D’AMéRIQUE: FOOD, FAMILY AND PHILOSOPHY

Chantal Akerman
FRA, B 1988
99 min
V'11

Das nackte Überleben Chantal Akerman sucht ihren Weg auf Umwegen zwischen Geschichten und Experiment, mit semi-dokumentarischen, semi-experimentellen, semi-fiktiven Filmen. Die kollektive Erinnerung, die der Film gegen die Verdrängungen der Elterngeneration wach halten will, betrifft die Erinnerungen an den Holocaust und an all die Verluste, die vorausgingen. Da war, dramatischer als alle anderen, die Aufgabe der Muttersprache, auf die in der alten Heimat sich die patriarchalische Autorität gründete. Ein einziges Mal, gleich zu Beginn des Films, wenn jüdisches Erzählen als Tradieren in der Familie beschrieben wird und man versteht, wie es Gebeten verwandt ist, bringt die Regisseurin mit einem Satz sich selbst zu Gehör. Meine eigene Geschichte ist voll von Lügen und voll von Rissen, und ich habe nicht einmal ein Kind. Für die jüdische, europäische Filmemacherin, die den Hollywood-Bilderhandel nicht mitmachen kann, ohne ihre weibliche Identität aufs Spiel zu setzen, ist es unumgänglich, Ich zu sagen. Ihre persönliche Klage, ohne Kind zu sein, macht ihre Bilder authentischer und legitimiert die Form ihres Filmes. Indirekt, jüdisch, ist damit die brennende Frage nach den Körpern im Film gestellt. Filmen ist für sie kein Ersatz. Mit Bildern ließe sich nicht erhalten und darstellen, was nicht mehr da ist, was vergangen und verloren. Davor kann man die Ohren nicht verschließen. Die Bilder, die Vergangenheit repräsentieren, verfälschen Erinnerung. Da ist es besser, erfundene und immer lückenhafter werdende Erinnerungen erinnernd wachzuhalten. Die Löcher herzuzeigen, damit andere sie mit ihren Bruchstücken füllen. Der amerikanische Untertitel des Films ist Food,Family, Philosophy . Er bezieht sich im Besonderen auf eine Geschichte des Films, in der ein Mann einen anderen nach dessen Erfolgsrezept im Umgang mit Frauen fragt. Auch da wieder hängt alles nur ab vom Reden (jiddisch: schmusen). Denn alle Frauenherzen würden weich bei diesen Themen. Zwei Widmungen hat der Films. Sie bedürfen der Erklärung. Auch sie sind, wie alles Private in diesem Film, nicht nur das. Die wenigsten von uns wussten, dass Jacques Ledoux, der Leiter der Brüsseler Cinémathèque, der in den Sechzigern, als das Andere Kino seine kurze Chance in der Öffentlichkeit hatte, das Experimentalfilmertreffen in Knokke organisierte, mit Vatersnamen eigentlich Silberberg hieß. Hub Bals war Leiter des Filmfestivals von Rotterdam, wo alle die zusammenkommen und Filme zeigen, die der amerikanischen Bilderschwemme Widerstandleisten. Frieda Grafe «Süddeutsche Zeitung», 8. Februar 1990, Nr. 32 [Auszug]

Credits
Mallia Films, Paradise Films, La Sept, La Bibliothèque publique d’information, Le Centre Pompidou, RTBF
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